302 Roma sollen aus Münster in den Kosovo „zurückgeführt“ werden, deutschlandweit sind es etwa 10.000 Menschen. Es liegen viele aktuelle Berichte von anerkannten Institutionen und Organisationen über die tatsächliche Situation vor, in welche die Roma zurückkehren sollen. Hierüber möchten wir an dieser Stelle einen Überblick geben.
Amtliche Registrierung
Ein Großteil der jetzt im Kosovo lebenden Roma ist nicht amtlich registriert, weil Papiere entweder im Krieg und auf der Flucht verloren gegangen sind bzw. vernichtet wurden, oder viele Angehörige der Minderheiten nie registriert waren. Auch viele der Roma-Flüchtlinge in Deutschland, insbesondere deren hier geborenen Kinder, sind im Kosovo nicht registriert. Wie u.a. der EU-Menschenrechtskommissar und Amnesty International im März und Mai 2009 erklärten, ist die Folge dieses Missstandes, dass Roma ihre politischen und sozialen Rechte nur sehr eingeschränkt wahrnehmen können und faktisch von staatlichen Sozialleistungen ausgeschlossen sind. Einer nicht geringen Zahl der Angehörigen der Minderheiten droht laut OSZE aufgrund fehlender Registrierung und des neuen Staatsangehörigkeitsrechts die Staatenlosigkeit.
Wirtschaftliche Situation und Arbeitslosigkeit
Während die allgemeine wirtschaftliche Situation schon schlecht ist (37,3 % Arbeitslosenquote in 2009 und ca. 1.759 EUR BIP/Kopf in 2008), liegt nach Auskunft der Ombudsperson Institution in Kosovo die Arbeitslosenquote unter den Roma bei ca. 98 %. Viele leben von Gelegenheitsarbeiten oder sammeln Metall und anderen wiederverwertbaren Schrott, um zu überleben. Ein regulärer Arbeitsmarkt existiert für die Minderheiten nicht.
Unterkunft und Besitz
Ein Großteil der sich zur Zeit im Kosovo aufhaltenden Roma lebt in Flüchtlingslagern. Die größten sind die beiden bleiverseuchten Lager in Osterode und Cesmin Lug (im Norden von Mitrovica), in denen ca. 1000 Menschen einer gesundheitsschädigenden Bleibelastung ausgesetzt sind.
Kosovo-albanische Nationalisten zerstörten während und nach dem Krieg Tausende von Häuser, in einzelnen Städten ganze Viertel der Roma (z.B. die Siedlung „Roma Mahalla“ in Mitrovica, in der ca. 8.000 Menschen lebten). Die kosovo-albanische Mehrheitsbevölkerung besetzte einen Großteil der unzerstörten Häuser und nutzte oder bebaute Grundstücke und Agrarland illegal. Verschärft wird diese Situation dadurch, dass Häuser und Grundstücke mehrheitlich nie eingetragen waren und viele Register im Krieg zerstört wurden oder 1999 mit der serbischen Verwaltung außer Landes gebracht wurden. Die Rückgabe von Häusern und anderem Besitz stellt u.a. laut des ausführlichen Berichts der Minority Rights Group von Mai 2009 und des UNHCR-Berichts von Juni 2009 ein bisher ungelöstes Problem dar.
Der EU Menschenrechtskommissar stellt fest, dass die örtlichen Behörden viele der gezwungenermaßen Zurückkehrenden nicht versorgen, und die Menschen obdachlos werden oder in den Flüchtlingslagern landen.
Gesundheitsversorgung
Die Gesundheitsversorgung ist im Kosovo allgemein und insbesondere für psychische Erkrankungen sehr unzureichend. Es fehlt sowohl an der Versorgung mit besonderen Medikamenten als auch an flächendeckenden Möglichkeiten stationärer Behandlungen, langfristiger Therapien und komplizierterer Operationen. Darüber hinaus wies Amnesty International im Juni 2009 darauf hin, dass aufgrund der wirtschaftlichen Situation sowie der Kostenpflichtigkeit von Behandlungen und Medikamenten bei gleichzeitiger Abwesenheit ausreichenden Krankenversicherungsschutzes die meisten Angehörigen der Minderheiten de facto vom Zugang zu medizinischer Versorgung ausgeschlossen sind.
Zugang zu Bildung
Die aktuellen Berichte z.B. des UNHCR, der Ombudsperson Institution in Kosovo oder des EU-Menschenrechtskommissars machen deutlich, dass es eine hohe Analphabetenquote gibt, und die meisten Roma-Kinder entweder gar nicht zur Schule gehen oder (v.a. Mädchen) die Schule vorzeitig abbrechen. Gründe dafür sind zum einen die Armut (zu teure Schulbücher, Kinderarbeit etc.), zu weite Schulwege und die Angst vor Übergriffen und zum anderen sprachliche Schwierigkeiten: Die Mehrheit der Roma (und dies trifft verschärft auf jugendliche RückkehrerInnen zu) spricht die Schulsprachen Albanisch und (im Norden) Serbisch nicht. So gut wie keine Schule unterrichtet in Romanes.
Sicherheit
Der EU-Menschenrechtskommissar stellt in seinem Bericht vom März 2009 eine Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage fest, gleichzeitig jedoch auch weiter bestehende interethnische Spannungen und gewaltsame Zwischenfälle. Auch der UNHCR spricht von andauernden interethnischen Spannungen im gesamten Kosovo. Im August 2009 kam es (u.a. in Gnjilane und Urosevac) zu mehreren gewaltsamen Übergriffen auf Roma und deren Häuser. Die örtliche Polizei, die KFOR- und OSZE-Kräfte können die Sicherheit von Minderheiten nicht effektiv gewährleisten. Die von manchen Berichten festgestellte Verbesserung der Sicherheitslage beschränkt sich weitgehend auf die Situation innerhalb der (meist isolierten) Roma-Siedlungen und größeren Roma-Gemeinschaften. Außerhalb bleibt die Lage hingegen gefährlich.
Hinzukommt, wie die Minority Rights Group im Mai 2009 feststellt, dass das Gerichts- und Strafverfolgungssystem bisher nicht effektiv funktioniert und das oberste Gericht noch nicht konstituiert ist. Diese Faktoren führen zu einem faktischen Vakuum in der staatlichen Garantie und dem Schutz der Menschenrechte, vor allem für die Minderheiten.
Ressourcen für Rückkehrer
Es gibt internationale, regionale und lokale Rückkehr-Projekte, die jedoch faktisch noch keine hinreichende Unterstützung anbieten (können). Die OSZE beschreibt in ihrer Erklärung vom Juni 2009 die Schaffung von Bedingungen für eine nachhaltige Rückkehr als eine noch zu bewältigende Herausforderung. Auch laut EU-Menschenrechtskommissar verfügt der Kosovo momentan weder über finanzielle noch über organisatorische und infrastrukturelle Kapazitäten, um eine größere Zahl von Rückkehrerfamilien in „Würde und Sicherheit“ aufzunehmen.
Zudem teilt er die Auffassung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, dass eine massenhafte (freiwillige oder erzwungene) Rückkehr die zerbrechliche Sicherheitssituation destabilisieren und interethnische Spannungen wieder deutlich erhöhen würde.
Fazit
Die Lage der Roma im Kosovo hat sich seit der Unabhängigkeit des Kosovo – trotz nationaler und internationaler Bemühungen - nicht verbessert und auch die Ombudsperson Institution in Kosovo sieht keine Anzeichen dafür, dass sich dies in näherer Zukunft ändern wird.
Roma sind weiterhin marginalisiert, ihre Existenz ist nicht gesichert, und sie sind weiter von Übergriffen bedroht. Der junge kosovarische Staat hat noch keine wirtschaftlichen und infrastrukturellen Ressourcen, keine räumlichen Kapazitäten und keine effektiven Strukturen, die eine menschenwürdige und sichere Rückkehr ermöglichen würde. Eine massenhafte erzwungene Rückkehr würde sowohl die Situation der derzeit dort lebenden Minderheiten noch weiter verschlechtern, als auch die latenten Spannungen und interethnischen Konflikte weiter verschärfen.
Human Rights Watch:
Rights Displaced – Forced Returns of Roma, Ashkali and Egyptians from Western Europe to Kosovo (Oktober 2010)
Deutschsprachige Zusammenfassung
Kapitel Serbien/Kosovo aus World Report 2010 (englisch)
Kosovo. Poisoned by Lead. A Health and Human Rights Crisis in Mitrovicas Roma Camps (Juni 2009)
PACE (Parlamentarische Versammlung des Europarates):
Roma migrants in Europe (Juni 2012, englisch)
Roma asylum seekers in Europe (vorläufige Fassung September 2010)
UNICEF:
Stilles Leid. Zur psychosozialen Gesundheit abgeschobener und rückgeführter Kinder (März 2012)
Zusammenfassung der Studie „Stilles Leid“ (März 2012)
UNHCR:
Deutsche Übersetzung der „Eligibility guidelines“: UNHCR- Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Personen aus dem Kosovo (Januar 2010)
Eligibility guidelines (November 2009)
Global Report 2008 on Serbia (Juni 2009)
UN-Sicherheitsrat:
Bericht des UN-Generalsekretärs zur UN-Mission im Kosovo (Januar 2012, englisch)
OSCE Mission in Kosovo:
An Assessment of the Voluntary Returns Process in Kosovo (Oktober 2012, englisch)
Community Rights Assessment Report, Third Edition (Juli 2012, englisch)
Assessing progress in the implementation of the policy framework for the reintegration of repatriated persons in Kosovo’s municipalities (September 2011, englisch)
Implementation of the Action Plan on the Strategy for the Integration of the Roma, Ashkali and Egyptian Communities in Kosovo (Mai 2011, englisch)
Implementation of the Strategy for Reintegration of Repatriated Persons in Kosovo’s Municipalities (November 2009, englisch)
Sustainable return to Kosovo remains a challenge (Juni 2009)
Background Report. Lead contamination in Mitrovica affecting the Roma community (Februar 2009)
You Are Displaced, Your Rights Are Not (2008)
Kosovo/Kosova. As Seen, As Told. Teil 1, Okt. 1998 bis Juni 1999 (1999, englisch)
Kosovo/Kosova. As Seen, As Told. Teil 2, Juni bis Okt. 1999 (1999, englisch)
Roma & Ashkalia Documentation Center:
Kosovo: Repatriating Europe’s Most Vulnerable Population (August 2011, englisch)
Minority Consultative Mechanisms in Kosovo (englischer Teil, November 2010)
Repatriation without Responsibility. The nature and implications of Roma, Ashkalia and Egytian forced repatriation to Kosovo (englisch, Oktober 2010)
Helplessness. Roma, Ashkalia and Egyptian Forced Returnees in Kosovo (August 2009, englisch)
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: Stellungnahme auf Basis einer Recherchereise des Zentralrats in den Kosovo im Mai 2010 (September 2010)
Pro Asyl: Bericht zur Lebenssituation von aus Deutschland abgeschobenen Roma, Ashkali und Angehörigen der Ägypter-Minderheit im Kosovo (Oktober 2009)
Amnesty International:
Stellungnahme zum Hearing im Deutschen Bundestag (Mai 2010)
International Report 2009: Serbien mit Kosovo (Mai 2009)
Europarat-Menschenrechtskommissar:
Brief an Bundeskanzlerin Merkel (November 2009, englisch)
Report of the Council of Europe Commissioner for Human Rights Special Mission to Kosovo (März 2009)
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Lead Contamination in Mitroviza Camps (April 2009)
Eight Annual Report 2007-2008 (Juli 2008, englisch)
Rechtsberaterkonferenz der mit den Wohlfahrtsverbänden und dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zusammenarbeitenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte: Aufenthaltserlaubnisse für Roma aus dem Kosovo (16.5.2009)
Schweizerische Flüchtlingshilfe:
Ausführliches Update zur Situation der Rückkehrer (März 2012)
Medizinische Versorgung im Kosovo (September 2010)
Kosovo: Zur Rückführung von Roma (Oktober 2009)
Position zu asylsuchenden Roma aus Kosovo (Oktober 2008).
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Wiederausreise statt Reintegration? Die Situation der unter Zwang rückgeführten Roma, Ashkali und Ägypter (während der Migrationspartnerschaft Schweiz–Kosovo 2010–2012; März 2013)
Deutscher Bundestag:
Protokoll der Sachverständigen-Anhörung im Innenausschuss (28.5.2010)
Delegationsreisen:
Church of Sweden:
Report from study visit to Kosovo September 2013 (Oktober 2013, englisch)
Innenauschuss des Landtags Niedersachsen im April 2012:
Bericht von Dr. Stephan Dünnwald und Kenan Emini (Juli 2012)
Innenausschuss des Thüringer Landtags im März 2012:
Bericht von Astrid Rothe-Beinlich (Juli 2012)
Bericht von Sabine Berninger (Juli 2012)
Praxis (Belgrad):
Access to Rights and Integration of Returnees on the Basis of the Readmission Agreements - Analysis of the main problems and obstacles (August 2011, englisch)